Gießener Anzeiger

FRANKFURT. Es ist die labyrinthartige Erzählstruktur in den Texten von Jorge Luis Borges, die die Frankfurter Tänzerin und Choreografin Prue Lang fasziniert. Jene Verwobenheit, Komplexität, Unendlichkeit ins Theater zu übertragen, ist ihr selbst gestecktes Ziel. “Infinite Temporal Series” heißt die choreografische Installation, mit der sie jetzt diesen Versuch wagt. Die Premiere des knapp 30-minütigen Stücks war am Wochenende im Bockenheimer Depot.

Lang gehört sei 1999 zum Ensemble des Balletts Frankfurt, wo sie dem Publikum aus Stücken wie “Endless House” oder “Woolf Phrase” bekannt ist. Die neue Installation hat es in sich: Prue Lang hat für ihr Projekt fünf quadratische Räume in einer Reihe hintereinander entworfen. In jedem Raum gibt es eine Bank für die Zuschauer, deren Anzahl auf insgesamt 30 begrenzt ist. Große Fenster in den Wänden zwischen den fünf Räumen eröffnen dem Publikum einen Durchblick auf den jeweils nächsten Raum, der so wie eine Spiegelung des eigenen wirkt. In diesen Räumen bewegen sich neun Tänzer, die während der Vorstellung die Räume wechseln und sich durch die Installation bewegen. Aber auch das Publikum darf -nein, sollte – während der Aufführung den Raum wechseln, sich in den einen oder anderen setzen; je nach eigenem Gutdünken. Dabei gibt es keine Musik, lediglich Klänge und Rhythmen sowie sprachliche Elemente, zu denen sich die Tänzer bewegen.

Interessant ist die Performance in erster Linie im Hinblick auf der Frage nach der Existenz eines Werkes. Langs Arbeit ist eine der eindrucksvollsten Belege für die Negation des Werkbegriffs: Dadurch, dass jeder Zuschauer individuell Position und Blickwinkel. wechselt, entsteht das Werk erst mit der Wahrnehmung durch seinen Betrachter. Jeder im Raum nimmt die Aktionen naturgemäß unterschiedlich auf, schreibt für sich die Choreografie der Ereignisse selbst. Die Interaktion mit den Tänzern und den übrigen Zuschauern gerät dabei zum wesentlichen Gestaltungsmittel dieses ästhetischen Abgesangs. Je nachdem, an welcher Position innerhalb der fünf Räume sich der Zuschauer gerade befindet, erscheint ihm die Situation komplett anders, nimmt er Worte wahr, die andere nicht verstehen, liest er projizierte Sätze, die andere nicht sehen. “infinite Tempo Series” ist damit weit mehr als ein Projekt oder ein Versuch. Es ist ein choreografierter Beitrag zur kunstästhetischen Rezeption, der selbst die letzten Zweifler fallen lässt. (Christian Rupp)